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Die Welt 27 juni 2002

Spanien ist das Paradies"
Der totgesagte Ort Aguaviva wirbt in Argentinien mit Erfolg um neue Bürger
Von Nikolaus Nowak
Aguaviva - Die Orte sind braun wie die Erde auf den Äckern. Dicke Balken stützen krumme Kirchtürme, verlassene Weiler säumen die schmale Durchgangsstraße. Nur wenige Fuhrwerke passieren die Dörfer. Die spanische Autonomie Aragón zählt zu den ärmsten des Königreichs und beklagt Arbeitslosigkeit und Abwanderung.

Anders in Aguaviva, ganz im Osten der Region. Am Ortsrand heben Bagger ein Neubaugebiet aus, im alten Rathaus neben der Pfarrkirche sind Renovierungsarbeiten im Gange. Bürgermeister Luis Bricio Manzanares von der konservativen Volkspartei (PP) sitzt in seinem improvisierten Büro hinter einer Packpapiertür, pausenlos klingelt das Telefon. "Vor fünfzig Jahren hatte Aguaviva 1700 Einwohner", sagt der Mediziner. "Als ich 1991 antrat, waren es noch 598." Der Ort drohte auszusterben.

Da schaltete Bricio seine erste Anzeige: "Spanischer Ort sucht Mitbürger, Familien mit schulpflichtigen Kindern" - gesendet im argentinischen Hörfunk. Heute zählt Aguaviva 710 Einwohner, darunter 60 Argentinier, 35 Rumänen und 17 Uruguayer, Ecuadorianer und Chilenen. Die Schule besuchen 92 Kinder, an der Durchgangsstraße leuchtet ein Hotelschild.

Eine, die im Oktober 2000 mit den ersten Zuwanderern kam, sitzt heute am Schreibtisch neben dem umtriebigen Bürgermeister: Gilda Mazzeo aus Buenos Aires ist so etwas wie die Generalsekretärin der "Spanischen Gesellschaft gegen die Entvölkerung", einem drei-Mann-Betrieb, den Bricio vor zwei Jahren aus der Taufe hob. "Sie können sich die Erleichterung nicht vorstellen", sagt die 34-Jährige. "In Buenos Aires gibt es keine Arbeit, kein Geld und keine Zukunft", so die zweifache Mutter, die ihr drittes Kind erwartet. Nicht einmal die 300 Meter zur Schule habe sie ihre Kleinen gehen lassen, aus Angst vor Überfällen. "Hier aber kann man wieder frei atmen und die Kinder können auf der Straße spielen. Spanien ist das Paradies."

Wieder klingelt das Telefon. Das PP-Büro in Buenos Aires meldet drei neue Familien. Ein andermal ist es das Rathaus von Unirea in Transsylvanien, dass sich nach den Einreisebestimmungen erkundigt. Bricios Verein mit einem Jahresbudget von 35.000 Euro arbeitet mit Partnern in über einem Dutzend Ländern zusammen - im direkten Vermittlungsverfahren und gegen alle Schlepperbanden. Unter den 2000 Anfragen pro Monat war jüngst auch ein Antrag aus Australien. Umgekehrt sind 90 Gemeinden in vier spanischen Autonomien der Gesellschaft angeschlossen, mehrere Hundert profitieren indirekt. Dörfer in Kastilien, in der Region Valencia und in der Mancha suchen dringend nach Neubürgern, über 70 Familien konnten vermittelt werden.

"Von der Abwanderung sind ja alle Randzonen Europas betroffen, auch Nordnorwegen und Teile Finnlands", sagt Bricio. In Spanien schrumpft dazu die Bevölkerung dramatisch, die Geburtenrate liegt mit 1,2 Kindern pro Frau EU-weit am unteren Rand. "Das Beste, um dem entgegenzusteuern, ist eine intelligente, selektive Einwanderungspolitik", sagt Bricio. Deshalb hat der 50-Jährige auch die Schulkinder-Klausel ins Programm genommen und setzt auf Handwerker und einfache Dienstleister: "Wer ohne Kinder kommt, kann den Bevölkerungsrückgang nicht stoppen, denn wenn die Schule zu macht, schließen auch der Arzt, die Apotheke und der Supermarkt." Spanien brauche keine Juristen oder Mediziner, sondern Maurer, Klempner und Kleinunternehmer.

Ortstermin in einer Seitengasse, 200 Meter vom Rathaus entfernt: Bricio besichtigt mit seinem Kollegen Luis María Agost aus der argentinischen Stadt La Rioja und zwei Handwerkern ein altes Dorfhaus. Durch die Decke mit ihrem Strohgeflecht pfeift der Wind, in der Küche steht noch ein Spülstein, der Herd ist ein Kamin. Das Gemäuer muss für eine fünfköpfige Familie hergerichtet werden. Pedro Paez und Gabriela sind mit Debora, Marco und Agostina aus La Rioja eingetroffen und brauchen eine Bleibe. Pedro wird mit Hand anlegen, die Kreisverwaltung unterstützt die Renovierung historischer Gebäude. Doch die Hauptlast trägt Aguaviva. Deshalb sammeln die Bürger und spenden Kühlschränke, Fernseher, Möbel und Geschirr.

"Bei uns warten 1000 Familien auf die Ausreise", sagt Agost. La Rioja und das Umland mit 170.000 Einwohnern sind wie ganz Argentinien von der Wirtschaftskrise aufgerieben. Umfragen zufolge sitzt jeder fünfte Argentinier auf gepackten Koffern. Traumziel: Spanien. Deshalb will Agost auch ein Netzwerk der ausgewanderten Riojenos schaffen, damit die Heimat an den Exilanten zumindest ein wenig mitverdienen kann. "Wenn es hier Herbst ist, beginnt bei uns der Frühling", sagt er. "Ideale Voraussetzungen für einen ganzjährigen Austausch von Agrarprodukten und frischen Früchten, aber auch von technischem Know how." Agost würde gerne eine argentinische Ziegelei in Aguaviva ansiedeln, umgekehrt schwebt ihm der Import spanischer Windkraftwerke für die Region am Fuß der Anden vor: "Der Kontakt nach Europa ist die einzige Chance für unser ruiniertes Land."

Über Aragón strahlt inzwischen die Nachmittagssonne und taucht Gehöfte, Hügel und Felder in rötliches Braun. Paez steht am Fenster seiner provisorischen Unterbringung in einem Dachstuhl. Den einzigen Raum haben die Nachbarn mit Fernseher, Kühlschrank und einem Tisch möbliert, um den die Kinder sitzen und malen. "Wir haben uns schon vor über einem Jahr zur Flucht entschieden", sagt der 37-Jährige. Gabriela hatte ihren Job in einer Beratungsstelle verloren, er versuchte sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser zu halten. Doch die Familie wusste nicht wohin, alle Ersparnisse - Eigenheim, Auto und zuletzt auch das Telefon - fielen den laufenden Kosten zum Opfer. Dann hörte Paez die Anzeige aus Aguaviva im Radio - und stellte sofort einen Antrag. Bei ihrer Ausreise hatte die Familie nicht mehr als Kleidung und die nötigsten Papiere im Gepäck. Den Flug streckte Bricios Initiative vor, die Unterkunft stellt die Gemeinde. "Nächste Woche bekomme ich meine Aufenthaltserlaubnis und dann werde ich meine Schulden abarbeiten", sagt Paez, "wir sind noch einmal davongekommen."

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