April 2005  
 
 
"Wir sind gegen die Diktatur, die Putin verkörpert", sagt Roman Dobrochotow.  
 
Der 21 Jahre alte Sohn eines Philosophiedozenten, aufgewachsen in liberalem Elternhaus, steht vor dem Examen an der Moskauer Elitehochschule für Diplomaten. Mit einer Zukunft im Staatsdienst werde es wohl nichts, sagt er beim Gespräch in der "Amerikanischen Bar" am Majakowskij-Platz. Denn Dobrochotow ist ein führender Kopf der studentischen Anti-Putin-Bewegung. Der Prorektor hat ihn nach einem Anruf aus dem Kreml schon einmal zu sich zitiert. "Wir entscheiden heute darüber, ob Rußland eine Demokratie wird oder den Anschluß an den Westen verliert", sagt Dobrochotow, der einen Anzug mit Krawatte zu orangefarbenem Hemd trägt.  
 
 
Die studentischen "Revolutionäre" organisieren sich über eine Datenbank, verabreden sich über E-Mails und Handys. In dieser Woche werden sie demonstrieren, wenn Michail Chodorkowskij, der verfemte Oligarch, zu Lagerhaft verurteilt wird. "Wir fordern eine faire Gerichtsverhandlung für ihn. Es ist klar, daß der Kreml den Prozeß dirigiert", sagt Dobrochotow.  
 
"Die-ohne-Putin-Gehenden"  
 
Die Bewegung nennt sich "Die-ohne-Putin-Gehenden". Der Namen ist die Antwort auf die vom Kreml gesteuerte Putin-Jugend "Die-zusammen-Gehenden". Die Putin-Fans durften ihr Idol schon mehrfach bei Kundgebungen auf dem Roten Platz feiern, erhielten Audienz beim Präsidenten. Die Gegenbewegung entstand Anfang des Jahres in Putins Heimatstadt St.Petersburg. Als die Fahrpreise für den Nahverkehr verdreifacht worden waren und das Stipendium von monatlich zwölf Euro auffraßen, hatten manche genug.  
 
Andere kamen, als die Befreiung der Studenten vom Armeedienst aufgehoben werden sollte. Aus sozialem ist politischer Protest geworden: Bei ihrer jüngsten Straßenaktion erinnerte die Petersburger Gruppe an die Opfer des blutigen Terroranschlags von Beslan und forderte den Rücktritt Putins und seines Geheimdienstchefs, die ihrer Verantwortung nicht gerecht geworden seien. Die Polizei versucht die Aktionen durch Festnahmen zu verhindern, noch bevor Plakate ent-rollt sind, berichtet der Gründer der Bewegung, Michail Obosow.  
 
Sozialer und politischer Protest  
 
Noch sind die jugendlichen Putin-Gegner eine Minderheit. Doch sie fühlen sich als Teil eines Aufbruchs, den Rußland seit einem halben Jahr erlebt. Die Apathie ist verflogen, eine Welle des Protests gewinnt an Kraft. In Moskau gehen dieser Tage 4000 Studenten gegen schmale Stipendien und karge Bezüge ihrer Professoren auf die Straße, in Nischnij Nowgorod sind es 2500. Die Bevölkerung der Republik Baschkirien wagt den Aufstand gegen den autoritären Herrscher Murtasa Rachimow.  
 
Vor allem die Rentner, die immer brav zu Hause saßen und von endloser Leidensfähigkeit durchdrungen schienen, sind Anfang des Jahres voller Wut losgezogen. Sie blockierten Straßen, errichteten Zelte auf Bahngleisen, stürmten ohne Fahrschein die Petersburger U- Bahn und verprügelten auch einmal einen Schaffner. Zu Hunderttausenden wehrten sich die Alten dagegen, daß die Regierung ihnen ihre Privilegien wie verbilligte Fahrkarten, Mieten und Medikamente wegnahm, ihnen dafür Geld zu weit geringerem Gegenwert bot.  
 
Gießkannenprinzip  
 
Der Kreml beruhigte die explosive Lage dadurch, daß er nach dem Gießkannenprinzip Geld übers Land verteilen ließ. Doch die Demonstranten haben ihre Macht gespürt und Geschmack am Kämpfen gefunden. Nicht zuletzt die Regimewechsel in der Ukraine und in Kirgistan haben ihren Mut beflügelt und die Nervosität im Kreml zur leichten Panik gesteigert. "Die Revolutionen in der Ukraine, aber auch in Georgien waren für viele von uns entscheidend", sagt Dobrochotow.  
 
Für eine Kopie der Ereignisse von Kiew oder Tiflis taugt Rußland kaum. "Aber wir gehören zum gleichen politischen Raum", sagt der Politologe Andrej Rjabow vom Moskauer Carnegie Center. Auch in Rußland gebe es ein oligarchisches System, das einen kleinen Clan bediene. Ein Teil der Elite werde an den Rand gedrängt und verbinde seine Interessen mit dem Unmut der Bevölkerung. Die wende sich nun gegen die krasse soziale Ungleichheit und die Gängelung durch einen halbtotalitären Staat.  
 
Kaum Aufstiegschancen  
 
Denn Studenten wie Rentner wissen, daß der Staat durch die Einnahmen aus Öl- und Gasexporten Devisenreserven in Höhe von 150 Milliarden Dollar angehäuft hat. Sie wissen auch, daß der Sohn von Verteidigungsminister Sergej Iwanow mit 25 Jahren Vize-Präsident der mächtigen Gasprom-Bank geworden ist, daß der Sohn von Rachimow die Ölgeschäfte der Republik kontrolliert oder daß die Tochter des ehemaligen Petersburger Oberbürgermeister Sobtschak ihren Freund, einen gewöhnlichen Polizisten, zum Polizeichef der Stadt zu machen sucht. Vor allem vermisse die Bevölkerung Aufstiegschancen, die es unter Putin immer weniger gebe, sagt Rjabow.  
 
Putin selbst sieht die Entwicklung seit Monaten mit leisem Entsetzen. So angeschlagen wie kürzlich bei seinem Besuch in Hannover hat man den Präsidenten lange nicht gesehen. Der Schock über die Protestwelle sitzt tief. Putin, eher Bürokrat denn Politiker, mag eine organisierte Bevölkerung, nicht aber selbständige, aktive Bürger. Nun erntet der Erfinder der "gelenkten Demokratie", was er gesät hat. Das Parlament hat er gleichgeschaltet, doch seine Kreml-Partei "Einiges Rußland", eine Hülse ohne Inhalt, zerfällt und verliert in den Regionen eine Wahl nach der anderen.  
 
Versagen der Regionalfürsten  
 
Daß Putin die Wahl der Gouverneure nach dem Terrorakt von Beslan abschaffte, schlägt auch zu seinen Ungunsten aus. Denn heute ist er allein verantwortlich für das Versagen der Regionalfürsten. "Bisher protestierte man gegen die, die man gewählt hatte, nun aber gegen die, die Putin bestimmt. Wenn man nicht mehr wählen darf, kann man nur noch demonstrieren", sagt der Politologe Nikolaj Petrow. Den Kreml schockiere, so Petrow, daß spontane Massendemonstrationen möglich seien. "Die Leute haben einfach keine Angst mehr."  
 
Putin macht indes die alten Fehler. Weiter setzt er auf Zentralisierung der Macht, verschärft noch einmal die Wahlgesetze. Doch schafft er es nicht einmal, neue Gouverneure rechtzeitig zu benennen. Die meisten guten Leute hat der kontrollwütige Kremlchef vergrault, er hat sich mit "grauen Herren" umgeben, wie dem unsichtbaren Ministerpräsidenten Michail Fradkow.  
 
Wie bei einem Dinosaurier  
 
Zugleich hat der Kreml, in Überschätzung der Beliebtheit des Präsidenten, ein Dutzend Reformen gleichzeitig begonnen und dabei den Überblick verloren. "Tendenzen für eine Systemkrise" sieht Politologe Rjabow. Von einer Paralyse der Zentralmacht spricht sein Kollege Petrow: "Putin kann sein System nicht am Leben erhalten. Es ist wie bei einem Dinosaurier, bei dem es zu lange dauert, bis das Signal vom kleinen Kopf beim großen Körper ankommt." Das größte Problem Putins sei nicht, wie er im Jahr 2008, wenn er laut Verfassung abtreten muß, seine Macht behalten könne. Vielmehr entgleite ihm schon jetzt die Kontrolle. "Das heutige Regime kann nicht bis 2008 überleben", prophezeit Petrow.  
 
Das mag übertrieben sein. Noch gibt es in Rußland etwas zu verteilen, kann man Bevölkerungsgruppen kaufen. Doch die Frage ist, ob Putin teilen will. Der geschaßte Ministerpräsident Michail Kasjanow, Zögling der Jelzin-Familie und Freund der ehemaligen Oligarchen, suchte ein Jahr lang einen Job in der Wirtschaft. Als Ausgestoßener des Systems fand er keinen.  
 
Nun hat er auf einer Konferenz in London die Flagge gehißt als möglicher Gegenkandidat Putins im Jahr 2008. Daß es dann zu einer freien Wahl mit einem gemeinsamen demokratischen Bewerber kommt, ist das Ziel der Anti-Putin-Jugend von Roman Dobrochotow. Sie zählt bisher hundert Jugendliche in der Elf-Millionen-Stadt Moskau. Doch im nächsten Jahr werde man in Moskau tausend sein und Zehntausende im ganzen Land, sagt der Student. "Unser wichtigster Verbündeter ist Wladimir Putin", ist Dobrochotow überzeugt. "Er tut alles, um sein eigenes System zu zerstören."