British Telecom betrachtet Hyperlinks als geistiges Eigentum
In den letzten Wochen erhielten einige grosse amerikanische Internet-Firmen
Post von British Telecom. Darin werden sie aufgefordert, für die Benutzung
des World Wide Web Gebühren zu bezahlen; es handle sich um patentrechtlich
geschütztes privates Eigentum.
S. B. Er werde immer wieder gefragt, schreibt Tim Berners-Lee in seinem Buch
«Weaving the web» (1999), welches konkrete Ereignis ihn dazu gebracht habe,
das Web zu erfinden. Die Journalisten seien dann enttäuscht, dass er keine
Geschichte erzählen könne wie Newton, der, nachdem ihm ein Apfel auf den
Kopf gefallen sei, schlagartig das Konzept der Schwerkraft erkannt habe.
Ende der siebziger Jahre arbeitete Berners- Lee am europäischen
Kernforschungszentrum Cern in Genf an Software, die die verteilte
Dokumentenverarbeitung erleichtern sollte. 1990 stellte er das Ergebnis
seiner Bemühungen unter dem Namen World Wide Web (WWW) der Internet-
Gemeinde unentgeltlich zur Verfügung. Heute umfasst das WWW mehr als eine
Milliarde von Dokumenten, die von Hunderten von Millionen Menschen genutzt
werden.
Vorbild der Vorbilder
Letzte Woche nun machte sich British Telecom (BT) daran, die Urgeschichte
des World Wide Web neu zu schreiben. Für ein «information handling system
and terminal apparatus therefor» hatte die Firma 1980 in den USA ein Patent
beantragt, das 1989 gewährt wurde. Das Patent mit der Nummer 4873662 ging
dann offenbar vergessen. Erst kürzlich erinnerte man sich bei BT wieder an
dieses Patent und daran, dass man damit ja eigentlich das WWW hat erfinden
wollen. Letzte Woche wurden einige grössere amerikanische Internet-Firmen
von BT aufgefordert, Lizenzgebühren zu bezahlen. Wie viele Firmen es sind
und wie viel Geld BT für die Benutzung der Hyperlinks fordert, ist nicht
bekannt.
Das Patent 4873662 beschreibt ein Verfahren, um über öffentliche
Telefonleitungen auf Informationen zuzugreifen, die auf einem zentralen
Computer lagern. «Die darzustellende Information wird in Blöcken
gespeichert, von denen der erste Teil die Information enthält, die auf dem
Terminal tatsächlich dargestellt wird, während der zweite Informationen
umfasst, die zum gegebenen Zeitpunkt oder auf Grund einer Tastatureingabe
die Darstellung beeinflussen. Zum Beispiel könnte der zweite Teil des Blocks
Informationen enthalten, um die vollständige Adresse eines anderen Blocks zu
liefern, der durch das Drücken einer bestimmten Taste auf der Tastatur
ausgewählt werden könnte. Der zweite Teil des Blocks könnte aber alternativ
auch Informationen enthalten, die die Formatierung oder die Farbe der
Darstellung auf dem Bildschirm beeinflussen.»
Auch wenn man sich bemüht, in der abstrakten, durch zahlreiche
Wiederholungen und unverbindliche Kann- und Könnte-Formulierungen
verdunkelten Beschreibung eine Technik für den Aufbau eines verteilten
Hypertext-Systems zu sehen, wird man darin schwerlich etwas Innovatives
entdecken können. Das Prinzip, elektronische Dokumente durch eingebettete
Verweise mit anderen, an einem anderen Ort gespeicherten Dokumenten zu
verknüpfen, war Ende der siebziger Jahre bereits Allgemeingut. Es wurde
beispielsweise von Ted Nelson, dem die Ehre gebührt, das Wort Hypertext
erfunden zu haben, in verschiedenen Büchern und Aufsätzen popularisiert.
Douglas Engelbart hatte während der sechziger Jahre am Stanford Research
Institute in Palo Alto ein «Online-System» (NLS) entwickelt, das nicht nur
eine graphische, Maus-gesteuerte Benutzeroberfläche, sondern auch ein
verteiltes Hypertext-System umfasste.
Nach ihren Vorbildern befragt, nennen Engelbart und Nelson an erster Stelle
Vannevar Bush, der in dem viel beachteten Aufsatz «As we may think» 1945
eine Maschine beschrieb, die es Geistesarbeitern ermöglichen sollte,
Tausende von Büchern zusammen mit Notizen, Kommentaren und Verknüpfungen
zwischen Textstellen zu speichern und mittels Knopfdruck aufzurufen. Doch
auch Bush war - bei allem Respekt, den sein weit vorausschauender Aufsatz
einem abnötigt - ein Zwerg, der auf den Schultern anderer Zwerge stand. Auf
der Suche nach älteren Vorbildern könnte man sich etwa vom amerikanischen
Historiker Anthony Grafton zu den «tragischen Ursprüngen der deutschen
Fussnote» (Buchtitel) führen lassen und noch weiter zurück, zu den
mittelalterlichen Randglossen eines Petrus Lombardus, die oft ihrerseits
noch glossiert wurden und so viel Platz einnahmen, dass der eigentliche Text
nur noch in einer schmalen Randspalte Platz fand. Anstatt auf
Psalmenkommentare pflegt Nelson gerne auf den Talmud zu verweisen, um zu
erläutern, was er sich unter Hypertext vorstellt. So fällt, wer sich mit
US-Patent 4873662 beschäftigt, rasch hinter die siebziger Jahre des 20.
Jahrhunderts zurück und gelangt zu den Anfängen der Schriftlichkeit.
Probleme mit Patenten
Man mag lächeln über die Dreistigkeit von British Telecom, Hyperlinks als
geistiges Eigentum für sich zu beanspruchen. Aber es handelt sich hier nicht
um eine singuläre Erscheinung. Das amerikanische Internet-Warenhaus Amazon
beispielsweise hat das Verfahren, dank dem ihre Kunden die Formalitäten beim
Abschicken einer Bestellung mit nur einem Mausklick erledigen können,
patentiert. Auch die Idee, andere Websites zum Placieren von Verweisen auf
die Website von Amazon zu animieren, indem diese an den Umsätzen, die daraus
entstehen, beteiligt werden, ist patentrechtlich geschützt. Weil beide
Patente Methoden betreffen, die innerhalb und ausserhalb des Web schon lange
gängige Praxis sind, haben Amazons Versuche, daraus Profit zu schlagen,
einen Sturm der Entrüstung ausgelöst. Prominente Persönlichkeiten wie der
Verleger Tim O'Reeilly oder Richard Stallman, Präsident der Free Software
Foundation, haben dazu aufgerufen, Amazon zu boykottieren. Amazon-Chef Jeff
Bezos rechtfertigt das Vorgehen seiner Firma in einem offenen Brief damit,
dass man möglichst viele Patente akquirieren müsse, um ein Pfand in der Hand
zu haben, falls andere Firmen mit Patentrechtsklagen angreifen würden.
Das amerikanische Patent and Trademark Office (PTO) erteilt pro Jahr rund 20
000 Patente. Darunter gibt es, insbesondere bei den Patenten für Software
und Geschäftsmodelle, zahlreiche Kuriositäten. Gregory Aharonian beschäftigt
sich seit vielen Jahren damit, Beweise zu liefern, dank denen Patente
annulliert werden können. Er schätzt, dass 50 bis 80 Prozent aller Software-
Patente ungültig sind. Gegenüber der «New York Times» beschrieb er das
Fundament, auf dem BT ihre Forderungen nach Lizenzgebühren abstützt, als so
stark wie «nasse Spaghetti».
Für Tim Berners-Lee sind Patente ein «grosses Hindernis für die
Weiterentwicklung des Web». «Das ursprüngliche Ziel des Patentrechts -
Innovation zu fördern und die Publikation neuer Ideen zu erleichtern - ist
edel, aber der Missbrauch ist derzeit ein sehr ernsthaftes Problem.»
Neue Zürcher Zeitung, 30. Juni 2000