Anatomie einer Männerfreundschaft  
 
Gerhard (Schröder) und Wladimir (Putin): Was wiegt schon Tschetschenien gegen Sicherheit durch russisches Erdgas?  
 
Von Michael Thumann  
 
Gerhard Schröder erstaunt am meisten, wenn er leise spricht. Die frisierten tschetschenischen Wahlen vor dem Geiseldrama in Beslan? Der Kanzler konnte »eine empfindliche Störung« der Abstimmung nicht entdecken. Das Desaster der russischen Sicherheitskräfte in der Schule? Schröder will »keine Ratschläge« erteilen. Andere deutsche Politiker, auch der Bundespräsident, äußern über Tschetschenien das, was Schröder hörbar nicht sagt: Eine politische Lösung, welche die Anliegen der Tschetschenen ernst nimmt, ist überfällig.  
 
Aus Schröders Einsilbigkeit spricht kein Desinteresse. Russland ist für ihn Herzenssache. Zu wichtig für lockere Schröder-Sprüche vor Journalisten, zu groß für kleine Sticheleien, zu erhaben für einen Gang in die Sauna, wie ihn noch Helmut Kohl für angemessen hielt. Man sieht es an den Orten, die Gerhard Schröder und Wladimir Putin für ihre Zusammenkünfte wählen: die Christi-Erlöserkathedrale in Moskau zu Weihnachten, das in feudales Rot getauchte Kollegiengebäude der Universität von St. Petersburg. Es gibt laute Töne, die willkommen sind. Zu Kanzlers Geburtstag fiel ein Kosakenchor ins Schrödersche Endreihenhaus zu Hannover ein. Nur Hamburg hört einen Misston. Putin hat den geplanten Gipfel wegen der Staatskrise um das Geiseldrama abgesagt, die vierte Begegnung des deutsch-russischen Petersburger Dialogs läuft ohne ihn. Doch Gerhard Schröder wird er schon bald wiedersehen.  
 
Der Kanzler genießt Unabhängigkeit wie keiner seiner Vorgänger seit 1949  
 
Woher die Nähe zwischen dem deutschen Kanzler und dem russischen Präsidenten? Vorweg sei gesagt: Es ist eine Freundschaft aus freien Stücken. Unter Schröder genießt Deutschland eine Unabhängigkeit von Russland, die für alle Bundeskanzler vor ihm wie eine Utopie erschien. Konrad Adenauer, Willy Brandt, Helmut Schmidt und der frühe Helmut Kohl konnten einer Wirklichkeit nicht ausweichen: Russische Truppen standen an der Elbe und rund um Berlin.  
 
Sie waren das Symbol der schwierigen deutsch-russischen Sonderbeziehung im 20. Jahrhundert. Erst ein Krieg, der in beiden Ländern den Imperator stürzte, dann heimliche Kollaboration in der Weimarer Republik, der Pakt der Diktatoren Hitler und Stalin, der deutsche Überfall, Vernichtung, wie die Geschichte sie nicht gekannt hatte, schließlich ein geteiltes Deutschland. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 stand die Westgruppe ihrer Streitkräfte wie ein gestrandetes Schiff ohne Funkkontakt in Deutschland. Helmut Kohl offerierte Moskau Dutzende Milliarden als Rückreisepauschale, die in Russland einige wenige glücklich machten, auf jeden Fall aber schnell verprasst waren. Doch für Berlin war der Abzug Ost eine der wichtigsten Investitionen der Wiedervereinigung. Kanzler Schröder stand Russland von Beginn an ungezwungen und gleichberechtigt gegenüber und konnte als erste Parole ausgeben: Nie wieder Sauna!  
 
Sechs Jahre danach ist Schröder für Putin der wichtigste Partner unter den Staats- und Regierungschefs im Westen. Umgekehrt hat der deutsche Kanzler zu keinem seiner westlichen Kollegen ein so erprobtes Vertrauensverhältnis wie zu Putin. Man spricht deutsch miteinander. Putins Töchter besuchten die deutsche Schule in Moskau. Die Schröders haben ein Mädchen aus Russland adoptiert. Aber es würde dem Kanzler nicht gerecht, würde man sein Verhältnis zu Russland aufs Persönliche reduzieren. Auf Kritik an seiner Russlandpolitik hat er im kleinen Kreis einmal erwidert: »Ich lasse mir diese Erfolgsgeschichte nicht kaputtmachen!«  
 
Diese Geschichte ist dem großen Teil der deutschen Öffentlichkeit bisher entgangen. Vorhang auf: Worin liegt der Erfolg der Beziehungen zu Russland, welches sind die wichtigen Themen, was hat Schröder in den vergangenen Jahren erreicht?  
 
Sotschi, die sowjetisch opulente Sommerresidenz des Präsidenten am Schwarzen Meer, liegt fast in Hörweite der kaukasischen und vorderasiatischen Konflikte. Dort trafen sich Schröder, Putin und der französische Staatschef Jacques Chirac vor zehn Tagen. Sie sprachen über ein Land an Russlands Südgrenze, das Europa und den USA Kopfzerbrechen bereitet: Iran. Teheran bastelt eifrig an einem Nuklearprogramm, das auch wohlwollenden Betrachtern den Verdacht aufzwingt, es solle dereinst die Bombe hervorbringen. Russische Firmen liefern den Baukasten für einen Reaktor, der dabei helfen könnte. Das Beste wäre, Russland würde die Lieferungen einfach stoppen. Das aber lehnt die russische Industrie ab, das will Putin nicht. Sie verlassen sich lieber auf iranische Garantien. Darüber sprachen die Freunde in Sotschi. Mit Erfolg? Abwarten.  
 
Sotschi liegt keine zwei Flugstunden vom Irak entfernt. Schröder, Putin und Chirac sind nicht ganz frei vom Stolz, Recht gehabt zu haben gegenüber der Weltmacht Amerika. Sie waren auf der richtigen Seite, sie haben sich nicht in den Krieg treiben lassen, nur weil fern im Westen die Mär von den Massenvernichtungswaffen bis zum bitteren Widerruf verbreitet wurde. War das ein Erfolg? Gewiss. Doch die Symbolik, dieser ungleichschenklige Dreibund Moskau – Berlin – Paris gegen Washington, drückt noch etwas aufs Gemüt. Man fühlt sich wie am Morgen nach einer Moskauer Feier, die in Hektolitern zuckrigem Schampanskoje ertrank. Es fing ganz schön an, aber musste es so laut, so lang werden?  
 
Von Sotschi fährt man mit dem Auto in wenigen Stunden nach Tschetschenien. Dort führen die russischen Streitkräfte Krieg an drei Frontabschnitten. Der erste, wichtigste Abschnitt ist jener Kolonialkonflikt, den schon der zaristische General Alexej Jermolow im 19. Jahrhundert mit unerbittlicher Härte führte. Zweiter Abschnitt sind die täglichen »Säuberungskampagnen« russischer Uniformierter gegen die Zivilbevölkerung. Der dritte ist der Kampf gegen islamistische Terroristen, die der Rollkragen-Jermolow Putin und sein Vorgänger Boris Jelzin mit zwei Generalattacken auf Tschetschenien geradezu eingeladen haben.  
 
Deutsch-europäische Arbeitsteilung: Für heikle Fragen ist Brüssel zuständig  
 
Der Kaukasus ist zum geschätzten Reiseziel islamistischer Krieger geworden. Schröder weiß das, er will Putin darum keinen Rat aufzwingen, weder vor Berliner Mikrofonen noch in Sotschi. Doch überzeugend ist das brüderliche Schweigegelübde nicht. Wenn Tschetschenien ein Ort des weltweiten Kampfes gegen den Terrorismus ist, warum hat Putin dann die OSZE-Mission aus dem Land geworfen, warum legen Putins Soldaten einen Blutacker an, auf dem gewalttätige Islamisten säen können, warum, um allen Terror in der Welt, soll dieser Schauplatz nur eine »innere russische Angelegenheit« sein? Alles Fragen, die man einem guten Freund am Schwarzmeerstrand durchaus stellen könnte.  
 
Es gibt Europäer, die solche Probleme ansprechen. Der niederländische EU-Ratsvorsitzende hatte nach dem Massaker von Beslan pointiert gefragt, »wie diese Tragödie passieren konnte«. Dafür wurde der holländische Botschafter im Moskauer Außenministerium heruntergeputzt. Diese Aufgabenverteilung hat System. Vieles, was zu Verdruss führen könnte zwischen Deutschland und Russland, überlässt der Kanzler der EU-Kommission. Das Tauziehen um Visa für Kaliningrad? Streit um Schutzzölle? Reisen von europäischen Parlamentariern nach Tschetschenien? Bitte durchreichen nach Brüssel.  
 
Der Ruf der Kommission ist bei Wladimir Putin ohnehin nicht zu retten. Der Präsident verdächtigt die EU, Russlands historischen Wiederaufstieg verhindern zu wollen. Ihr beitreten zu wollen hat Putin längst aufgegeben. Russland baut sich sein eigenes Sternesystem östlich der EU, mit Moskau als Sonne – und der Ukraine, Kasachstan und Weißrussland als wichtigsten Planeten. Westliche Politiker trifft Putin am liebsten einzeln. In seiner jüngsten Rede vor der Diplomatenakademie kam die EU gar nicht mehr vor, wohl aber »Germania« an prominenter Stelle. Mit Schröder spricht er nicht über Visa und andere Kleinigkeiten, sondern über die Zukunft. Zum Beispiel über Pipelines.  
 
Erdgas ist eine Leidenschaft, die Putin und Schröder teilen. Deutschland verbraucht mehr und mehr Erdgas, Russland hat die größten Gasreserven der Welt. Daran können sich Freunde schon ziemlich lange wärmen. So meinen jedenfalls Schröder und Putin. Beide umgeben sich mit Beratern, die im großen Energiegeschäft dirigieren und in der Politik soufflieren. Schröders Mann ist Alfred Tacke, der ihn von Hannover nach Berlin begleitet hat. Tacke wechselt Anfang 2005 vom Staatssekretärssessel im Wirtschaftsministerium an die Spitze des Stromkonzerns Steag. Den Tafelrunden im Kanzleramt wird er treu bleiben. Der russische Tacke heißt Alexej Miller. Er folgte Putin auf dem Fuße von St. Petersburg nach Moskau, stieg dort zum stellvertretenden Energieminister auf und wurde von Putin 2001 zum Chef des Energieriesen Gasprom berufen. Mit Miller plant der Kremlchef heute die russische Energiestrategie.  
 
Unter Putin sind Energiefirmen wieder zur Schlüsselindustrie geworden. Siehe die beabsichtigte Verstaatlichung des umkämpften Ölriesen Yukos. Diese Resowjetisierung greift auch auf Nachbarländer über. Russlands Monopolisten kaufen in der Ukraine, in Georgien, in Kasachstan Gas- und Stromkonzerne auf. Bei Widerstand werden unbezahlte oder auch unbezahlbare Gasrechnungen präsentiert. Eine Gas-Opec soll entstehen. Der putinesische Plan: Globaler Einfluss gründet kaum mehr auf Atomwaffen – Öl- und Erdgasexporte blasen Russland wieder zur »Großmacht« auf.  
 
Deutsche Konzerne sind daran beteiligt. Unter Schröders und Putins schützender Hand weitet E.on seinen Anteil bei Gasprom aus. Deutsche Konzerne wollen Milliarden in nordsibirischen Gasfeldern versenken. Eine Unterwasserpipeline vom Finnischen Meerbusen bis zum Greifswalder Bodden soll her. Hier, auf dem Grund der Ostsee, liegen die deutsch-russischen Beziehungen der Zukunft. Heute liefert Russland 35 Prozent des deutschen Erdgases. Dieser Anteil kann in den kommenden 20 Jahren auf über 50 Prozent wachsen. Deutsche Konzerne und die Bundesregierung interessieren sich nicht für Quellen jenseits von Russland.  
 
Schröder und Putin verändern die deutsch-russischen Beziehungen mehr, als viele es ahnen. Die öffentliche Diskussion bleibt ihnen bislang erspart. Das könnte man Erfolg nennen, zumindest kurzfristig. Der Kanzler spricht heute auf derselben Augenhöhe mit dem russischen Präsidenten. Nur, Schröders Nachfolger dürften jenes historische Privileg verlieren, das er genossen hat: Unabhängigkeit von Russland.  
 
(c) DIE ZEIT 09.09.2004 Nr.38