Korruption, wohin wir blicken  
 
 
Von Sonja Margolina  
 
Dass Russland und Korruption beinahe Synonyme geworden sind, pfeifen nicht nur die Spatzen von den Dächern; dafür gibt es ein internationales Ranking, in dem die ehemalige Supermacht einen der vordersten Plätze, irgendwo vor Bangladesch, einnimmt. In den vergangenen Jahren erschienen in Russland mehrere beachtenswerte Studien zum Phänomen Korruption und Schattenwirtschaft; sie erfassen neben der Privatisierung der staatlichen Ämter, dem Zusammenwachsen der staatlichen Institutionen und der Wirtschaft mit der Organisierten Kriminalität, der Steuerhinterziehung, verschiedenen Formen der Schutzgelderpressung auch die Alltagskorruption der kleinen Leute, die im Grunde genommen nichts anderes ist als die Überlebenstechnik in einem Gemeinwesen, das nicht nach Gesetz, sondern nach Gewohnheits- und Faustrecht lebt. Abgesehen davon reißen in den russischen Medien die Berichte über spektakuläre Korruptionsaffären von Regierungsbeamten, Duma-Abgeordneten und Geheimdienstlern nicht ab. Dieses beinahe epische Panorama eines „Schattenstaates“ liefert den Rahmen für das Buch der FAZ-Korrespondentin Kerstin Holm über die russische Korruption. Die Autorin kennt sich in der russischen Kulturgeschichte hervorragend aus. Außerdem war sie Augenzeugin der Perestrojka und des Transformationsprozesses und scheint wie viele „teilnehmende Beobachter“ des letzten Modernisierungsschubs von dessen Ergebnissen enttäuscht zu sein. Vor diesem Hintergrund stellt sie die Frage nach den kulturhistorischen Voraussetzungen der endemischen Korruption, von der das russische Gemeinwesen befallen ist.  
 
Die Korruption, glaubt die Autorin, sei schon im Mittelalter durch das System der „Fütterung“ angelegt worden: Die Herrscher der russischen Teilfürstentümer überließen ihren Vasallen Ländereien, von denen diese sich ernähren sollten. Bald wird die Fütterung zum allgemeinen Prinzip des Staatsdienstes, der keine beziehungsweise nur eine miserable Besoldung der Beamten voraussetzt, sollen sie doch ihr Amt und Würden zu einer Futterkrippe machen. In der russischen Geschichte habe es Perioden gegeben, in denen die Zentralmacht schwach gewesen sei und das Korruptionswesen sich ungehindert habe entfalten können, sowie die Reformphasen, in denen Korruption ostentativ verfolgt worden sei, etwa unter Peter dem Großen oder zu Stalins Zeiten. Zar Peter war für seine inquisitionsähnlichen Hinrichtungen der Diebe am Staatseigentum berühmt, und selbst Stalin konnte die Korruption nicht ausrotten, obwohl er potenzielle Verbrecher schon im Voraus liquidieren ließ.  
 
Kerstin Holm lässt die Korruptionsgeschichte Revue passieren und zeigt sie als Wiederkehr des Immergleichen. Damit hat sie nicht Unrecht. Die kulturellen Weichen der Nation werden sehr früh, in der Zeit des nation-building gestellt. Werte und Institutionen reproduzieren sich innerhalb desselben Systems, und die Modernisierungsanstrengungen können durch das System unterstützt oder erstickt werden. Dann spricht man von der „abortiven Modernisierung“. Russlands abortives Potenzial scheint nicht erschöpft zu sein, im Gegenteil, es nimmt zu, und die Korruption, die gegenwärtig auf die Privatisierung der staatlichen Institutionen und Einkünfte hinausläuft, ist der Beleg dafür.  
 
Korruption ist ein vielschichtiges Phänomen, und sie kann ganz unterschiedlich, je nach der Perspektive des Autors und dessen Sicherheit im Umgang mit dem Material, betrachtet werden. Die Optik Holms wird bestimmt durch ihre problematische Definition der Korruption. Es ist nicht falsch, diese aus der lateinischen Wurzel abzuleiten und als „Verderbnis“ zu interpretieren. Aber die Totalisierung des Begriffs bringt die Totalisierung dessen, was auf den Begriff gebracht werden soll, mit sich. Damit entsteht eine Sichtweise, in der so ziemlich alles unter Korruptionsverdacht gerät.  
 
Das gilt zum Beispiel für die orthodoxe Kirche, auf die Holm nicht gut zu sprechen ist. Die Autorin begnügt sich nicht damit, deren Bereicherungssucht und korrumpierende Allianz mit dem Staat an den Pranger zu stellen; auch in der orthodoxen Lehre sieht sie eine Affinität zur Korruption. Selbst in der sakralen Kunst, etwa in der „umgekehrten Perspektive“ der Ikonen, komme die Korruption der individualistischen Werte zum Ausdruck. In dieser dekonstruktivistischen Lesart kann jede Abweichung von Ideen, Werten und Ansichten als Korruption von Normen dargestellt werden, die der Westen verkörpert.  
 
Zwar ist es nicht falsch, die Ursache für die Korruption in der fehlenden Erfolgsethik, im schwachen Rechtsbewusstsein, Fatalismus, Nihilismus und in vielen anderen Erscheinungsformen des russischen Kulturstils zu suchen. Doch in dieser Totalität kann die Spezifik der russischen Kultur für die ganze Fehlentwicklung verantwortlich gemacht werden, obwohl doch die Korruption nur eines von vielen Symptomen ist.  
 
Außerdem bleibt die Autorin vage im Hinblick auf die wachsende Korruption im Westen, obwohl „der schleichende Verfall der Zivilgesellschaft“ nichts Gutes verspricht. Das Buch beginnt mit der Behauptung, die Erfahrung der Korruption in Russland sei „total und existenziell“, und es endet mit der Feststellung, dass darin die „Universalität“ Russlands bestehe. Das könnte bedeuten, dass Russland bald überall sein wird. Angesichts dieser schönen Aussicht wäre es interessant, die so definierte und vermutlich virulente Korruption vor dem Hintergrund der Osterweiterung der Europäischen Union, von Sicherheitsinteressen und viel beschworener Integration zu denken, also im Zusammenhang mit den aktuellen europäischen Diskursen. Das geschieht aber nicht. Deshalb hinterlässt das Buch das Gefühl, dass die Autorin Russland einfach satt hat.