In Russland findet der wahre Wahlkampf hinter Gittern statt
Von Jens HartmannMoskau - Wladimir Besladnij legte eine Leidenschaft an den Tag, die im heutigen Russland wohl nur noch hinter Gittern anzutreffen ist. "Putin, das ist doch eine Nullnummer. Ich war mein Leben lang Kommunist und werde immer Kommunist bleiben. Ich werde für Sjuganow stimmen", rief der 38-jährige Häftling im Untersuchungsgefängnis 8/1 unweit von Lenins Heimatstadt Uljanowsk. Ein Mitgefangener sprang auf, schrie "Ich ersäufe Dich in der Kloschüssel", stürzte sich auf den kommunistischen Kontrahenten und erwürgte ihn mit bloßen Händen. Angesichts eines bis dahin müden Wahlkampfs brachte es die Geschichte aus dem prallen Leben eines Provinzgefängnisses auf die Titelseite der Moskauer Tageszeitung "Komsomolskaja Prawda.Zehn Tage vor der Wahl will in Russland - von der Schlacht hinter Gittern einmal abgesehen - der Wahlkampf nicht auf Touren kommen. Zwölf Kandidaten sind angetreten beim Rennen um das Präsidentenamt, doch die Mehrheit von ihnen erweckt den Eindruck, al!
s wolle sie gar nicht in den Kreml einziehen. Bei mindestens acht Kandidaten kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, sie würden selbst ihren Kontrahenten, Topfavorit Wladimir Putin, wählen.Der amtierende Präsident, vor einem halben Jahr noch ein politischer Niemand, gilt aus haushoher Favorit, alle Umfragen sehen ihn bei 50 plus X, auch wenn im Kreml die Frage diskutiert wird, ob es wirklich zu einem Kantersieg im ersten Wahlgang reicht oder Putin in den zweiten Wahlgang, die "Strafrunde", muss. Mit Abstand folgen Kommunistenchef Gennadi Sjuganow und Wirtschaftsreformer Grigori Jawlinski.Für Skurrilität sorgt der unvermeidliche Rechtsaußen Wladimir Schirinowski. Der stiernackige Politrambo, der erst auf dem Gerichtsweg seine Teilnahme erstritt, empfiehlt in seinen Werbespots den amtierenden Präsidenten als erstklassige Wahl.Inmitten dieses unwirklichen Reigens derjenigen, die sich ihre Loyalität zum Kremlbewohner mit einem Pöstchen bezahlen lassen wollen, konkurrieren alle!
in Grigori Jawlinski und Kommunistenchef Sjuganow ernsthaft gegen Putin. Sjuganow besucht "Arbeitskollektive" und preist die "Ackerscholle als den Ursprung Russlands". Er verspricht Rentnern doppelte Bezüge und will per Gesetz gegen Arbeitslosigkeit vorgehen.Jawlinski sitzt mit Verwundeten des Tschetschenienkrieges im Krankenhaus zusammen. Dass Jawlinski, der für ein Ende des Waffengangs eintritt, kein Heimspiel inmitten der Militärs hat, merkt man an seinem ziellosen Blick. Besser fühlt er sich in der Kochsendung "Smak", wo er jovial Anekdoten erzählt und "Warenniki", mit Kartoffeln gefüllte Teigtaschen, knetet.Putin selbst begibt sich nicht in die Niederungen des schnöden Wahlkampfs. Seine kostenlose TV-Sendezeit für Wahlspots nutzt er nicht. "Ich will nicht zwischen Snickers und Tampax erscheinen", sagt der 47-Jährige.
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