«Putin macht eine sehr gute Politik»
Michail Gorbatschow verteidigt das Vorgehen des russischen Präsidenten im Tschetschenien-Konflikt
Von Aschot Manutscharjan
Berliner Morgonpost 3 nov 2002
Äußert sich angesichts der verfahrenen Lage im Tschetschenien-Konflikt nachdenklich: Michail Gorbatschow
In der blutigen Geiselnahme in einem Moskauer Theater sieht auch der ehemalige sowjetische Staatspräsident Michail Gorbatschow einen Akt des internationalen Terrorismus. Auf Einladung des Deutsch-Russischen Forums hat Gorbatschow gerade Berlin besucht.
Berlin - Der in Deutschland beliebteste ausländische Politiker ist heute Vorsitzender der Sozial-Demokratischen Partei Russlands. Mit ihm sprach die Berliner Morgenpost über Tschetschenien und seine Beziehung zu Präsident Putin.
Herr Gorbatschow, wie beurteilen Sie die Aktion in Moskau zur Befreiung der Geiseln?
Michail Gorbatschow: In Russland sind fast alle damit einverstanden. Als klar war, dass es nicht zu einer friedlichen Lösung kommen würde und man sich auf die Katastrophe, den möglichen Tod aller 800 Geiseln einstellte, in dieser Situation hat die Führung diese Entscheidung getroffen. Die Terroristen wollen mit Angriffen in der ganzen Welt vor allem die USA, Indonesien und Russland in die Knie zwingen.
Wie könnte eine Lösung des Tschetschenien-Konfliktes aussehen?
Hier gibt es nur einen Weg, eine Lösung herbeizuführen, und zwar über politische Verhandlungen. Manchmal können sie jedoch nicht ausweichen und müssen die ganze Staatsgewalt einschließlich der Armee einsetzen. Als Putin die Regierung übernahm, verfolgte er den Ansatz, die Tschetschenien-Frage auf die politische Ebene zu heben. Aber diese Idee wurde von bestimmten tschetschenischen Kriegern torpediert. Es existieren auch genug Kräfte im Ausland, die ein enormes Interesse daran haben, dass Russland weiterhin in diesem Tschetschenien-Sumpf stecken bleibt. So können sie Russland ständig kritisieren. Mehr als 100 Millionen Dollar wurden vor kurzen gesammelt, um die tschetschenischen Aktionen zu unterstützen.
Werden die Tschetschenen nur vom Ausland unterstützt?
Auch in Russland wollen nicht alle, dass es endlich Frieden gibt. Für einige ist der Krieg in Tschetschenien ein Geschäft. Von ihm profitiert die tschetschenische Diaspora genauso wie Teile des russischen Militärs.
Zu Lasten der tschetschenischen Bevölkerung.
Immer, wenn sich in Tschetschenien das Leben zu normalisieren beginnt, kommt es zu neuen Terroranschlägen. Es werden Bomben gelegt, Tschetschenen, die in der Verwaltung arbeiten, werden ermordet, ihre Familien ausgelöscht. Das tschetschenische Volk will endlich Frieden. Das passt aber einigen nicht. Putin kennt die Stimmung der Mehrheit der Tschetschenen und will den Konflikt friedlich lösen.
Mit welchen Mitteln?
Es gibt regelmäßige Gespräche mit der tschetschenischen Diaspora, sogar Verhandlungen mit den Kommandeuren der Bojewiki [Kämpfer, die Red.]. Allerdings wird auf keinen Fall mit denjenigen gesprochen, die sich für den blutigen Weg des Terrorismus entschieden haben. Ich bin davon überzeugt, dass Putin nach dem Moskauer Terrorakt die richtigen Argumente in Händen hält, um diesen Leuten schneller das Handwerk zu legen.
Warum fürchtet man Russland unter Putin? Es gibt Klagen, die Pressefreiheit werde unterdrückt.
Lesen Sie die russischen Zeitungen! Putin wird nirgendwo stärker kritisiert als in Russland selbst. Ihn wollen viele vernichten, aber das Volk lässt es nicht zu, das Volk steht hinter Putin. Das sollen alle wissen, auch die Presse. In Russland läuft zurzeit ein harter politischer Kampf. Putin macht eine sehr wichtige und gute Politik im Interesse der Mehrheit des Volkes und der nationalen Interessen Russlands. Keine Politik hingegen für einige wenige Clans oder Familien. Das gefällt natürlich denen nicht, die unter Jelzin ihre Pfoten nach Russland ausgestreckt und die Säfte des Landes ausgesaugt haben. Deswegen unterstützt das Volk Präsident Putin, solange er dieses Amt bekleidet. Natürlich macht auch er Fehler, aber er leistet Ungeheures, um Russland aus dem Chaos herauszuholen, das er von Jelzin geerbt hat.
Fragt Präsident Putin um Rat?
Wir verstehen uns gut. Gelegentlich ruft er mich an oder ich rufe ihn an. Wenn es notwendig ist, treffen wir uns auch. Ich will ihn nicht mit meiner Erfahrung und meinen Ratschlägen belasten. Ich unterstütze aber seine Politik, weil es eine sozial-demokratische Politik ist. Wir haben in Russland einen guten Präsidenten.
Mit welchen deutschen Politikern unterhalten Sie freundschaftliche Beziehungen?
Zu Zeiten der DDR hatten wir mit einigen gute Beziehungen. Heute stehen sie hier alle auf der schwarzen Liste. Menschen wie Krenz, Stoph, Modrow waren zu der Einsicht gelangt, dass das Land von Honecker befreit werden müsste. Ihr Fehler war, dass sie zu spät zu mir gekommen sind. Es hätte sich alles anders in Deutschland entwickeln können. Von den westdeutschen Politikern war ich seit 1985 mit Willy Brandt verbunden, als er auf meine Einladung hin nach Moskau kam. In seiner Delegation befanden sich auch junge Sozialdemokraten wie Gerhard Schröder und Oskar Lafontaine. Schröder sagte mir einmal: «Herr Präsident, Sie erinnern sich sicher nicht daran, dass ich damals mit Willy Brandt nach Moskau reiste. Ich war auch viel jünger». Weiter habe ich gute Beziehungen zu Helmut Kohl, zu Genscher, Rita Süssmuth, Thierse, zu Johannes Rau, der mein alter Freund ist. Auch der bayerische Ministerpräsident Edmund Stoiber ist ein sehr seriöser Mensch, ein sehr aktiver und tüchtiger Politiker.