In Russland tobt der Kampf um die Macht des Zentrums
Demokratieverzicht für Aufschwung? - Eine Illusion Moskau - Russlands liberale Intelligenz ist nach Ansicht des Direktors des Moskauer Instituts für strategische Studien, Andrei Piontkowski, bereit, auf demokratische Freiheiten zu verzichten, um dafür wirtschaftliche Reformen einzuhandeln. Piontkowski hält das für eine gefährliche Illusion und kritisiert den Westen, der diesen Irrtum teile. Manfred Quiring sprach mit ihm. DIE WELT: Der Westen, aber auch viele ihrer Landsleute sehen in Präsident Putin einen neuen Hoffnungsträger. Sie fürchten, dass sich in Russland ein autoritäres Regime herausbildet. Warum so pessimistisch? Andrei Piontkowski: Ich bin nicht pessimistisch, ich beobachte nur, was abläuft. Nehmen Sie die Position unserer Liberalen, beispielsweise den Führer der Union der Rechtskräfte, Anatoli Tschubais. Sie alle reden von der Notwendigkeit einer gesteuerten Demokratie, einer manipulierten Demokratie. Für sie ist die populärste ausländische politische Figur der !
chilenische Ex-Diktator Pinochet. Die gesamte liberale Intelligenzija hat ihren Frieden gemacht mit der Konzeption von der starken Hand. Sie ist bereit, auf demokratische Freiheiten zu verzichten im Interesse - wie sie meinen - des wirtschaftlichen Fortschritts, der Fortführung der Reformen. Erstaunlich, dass genau diese Stimmung auch im Westen herrscht, nicht nur in Deutschland. Ihre Position: Demokratie ist zwar eine gute Sache, aber nicht für Russland, und schon gar nicht jetzt. Ihr dort braucht eine starke Hand, eiserne Ordnung und Sicherheit für Investitionen. DIE WELT: Und das stimmt nicht? Piontkowski: Ich halte das für eine gefährliche Illusion. Der freiwillige Verzicht auf Demokratie konserviert lediglich den gegenwärtig existierenden korporativen Staat, das heißt die Macht der Oligarchen. Genau das, die Vermengung von Staat und Business, hat uns die Finanzkrise von 1998 beschert. Dieses Modell ist in keiner Weise geeignet, die Aufgaben der Wirtschaft unseres Landes z!
u lösen. DIE WELT: Putin behauptet, jetzt beginne der Kampf gegen die allmächtigen Oligarchen, es beginne eine Zeit, in der alle vor dem Gesetz gleich seien. Piontkowski: Das ist sehr schwer zu glauben, denn auch jetzt sind einige "gleicher" als andere. Damit meine ich etwa die Herren Abramowitsch und Mamut, die Finanziers der "Familie", die auch eine große Rolle bei der Organisation von Putins Wahlkampagne und seiner Machtergreifung im Kreml gespielt haben. Was wir jetzt sehen, ist der Kampf mit den Gegnern dieses Oligarchenclans. Es ist die Hilfe des Staates für eine ihm freundschaftlich verbundene Gruppe bei der Lösung ihrer Wirtschaftsprobleme auf Kosten anderer Gruppen. DIE WELT: Wie sehen Sie das neue Gesetz über den Föderationsrat, das die Macht der Provinzgouverneure beschneidet? Piontkowski: Im Kern geht es dabei um die Veränderung des Staatsaufbaus in Russland, um die Verwandlung des föderalen Russlands in einen zentral gelenkten Staat, um die Stärkung der präsidiale!
n Macht. Noch vor wenigen Monaten waren sich alle Politiker in Moskau einig, dass unsere Verfassung eine extrem präsidiale ist, dass der Präsident zu viel Macht hat. Doch zu Jelzins Zeit wurde diese Macht zumindest ansatzweise begrenzt durch drei Gegenpole: eine oppositionelle Duma, eine unabhängige Presse und durch den Föderationsrat. Wir beobachten nun, wie diese Gegengewichte eins nach dem anderen beseitigt werden. DIE WELT: Aber haben nicht die Gouverneure zu viel Macht an sich gerissen und in den Regionen wie kleine Zaren geherrscht? Piontkowski: Die Gouverneure sind in der Tat nicht die angenehmsten Leute. Aber solche Differenzen löst man doch mit anderen Mitteln, wie die Erfahrungen der USA oder der Bundesrepublik zeigen. Dafür gibt es notfalls die Justiz. Wir haben es heute in Russland nicht mit dem Kampf gegen eigenmächtige Provinzpolitiker zu tun, sondern mit dem Kampf für die Allmacht des Zentrums. DIE WELT: Sehen Sie die Gefahr, dass nach der Föderation die Duma se!
lbst zurechtgestutzt werden könnte? Piontkowski: Ich sehe nicht, warum der Kreml sich mit einer gehorsamen Duma anlegen sollte. Aber im Kreml herrscht offensichtlich eine solche Euphorie der Allmacht, dass man nun glaubt, sich alles erlauben und die Macht noch stärker konzentrieren zu können. Tatsächlich existiert eine Gesetzesvorlage, die im Kern auf die Beseitigung des Parteiensystems in Russland zielt. Das Ergebnis würde dann sehr an das sowjetische Modell der KPdSU erinnern. DIE WELT: Wie beurteilen Sie die Situation in Tschetschenien? Piontkowski: Wir haben jetzt das Stadium erreicht, vor dem schon so lange gewarnt wurde - den für Russland aussichtslosen Partisanenkrieg. Doch die Machthaber haben bisher offensichtlich nichts gelernt. Und die Generäle reagieren hilflos. General Troschew hat gerade im Fernsehen etwas Erschütterndes gesagt. Auf die Frage nach der Effektivität der permanenten Bombardements der tschetschenischen Bergregionen und Wälder, in denen sich angeblich!
Kämpfer versteckt haben, sagte Troschew: Nach Auskunft der örtlichen Bevölkerung wird der Leichengeruch immer stärker. Das scheint mir symbolisch für die Vorgänge in Tschetschenien, der Leichengeruch wird stärker, allerdings auch auf russischer Seite. Es gibt nur zwei Auswege. Der eine, über den die Generäle und auch Politiker reden: Es gibt dort keine Zivilbevölkerung mehr, alle männlichen Einwohner ab zehn Jahre sind Banditen. Die Folge wäre ein Genozid. Dazu ist unsere Gesellschaft zum Glück noch nicht bereit. Die andere Lösung - Verhandlungen. Aber nicht mit denen, die wir selbst ernennen, sondern mit denen, die uns töten und die wir töten. DIE WELT: Stellt die Situation in Tschetschenien eine Gefahr für Putin als Präsident dar? Piontkowski: Nein, vorläufig nicht. Vielleicht in einem Jahr, wenn die Verluste für die Öffentlichkeit unerträglich geworden sind. Doch wenn man es ganz zynisch betrachtet, dann wird nichts geschehen, solange man die Opfer nur in der Provinz begrä!
bt. Die Kinder der Moskauer Politiker kämpfen nicht in Tschetschenien.
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